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Prävention von sexualisierter und interpersoneller Gewalt

„Sexuelle Belästigung, Machtmissbrauch, verbale und körperliche Übergriffe gehören zu den Schattenseiten unserer Gesellschaft. Sie können überall dort vorkommen, wo Menschen gemeinsam agieren, sich aufeinander einlassen und besonders dort, wo sie voneinander abhängig sind, also in Familien, Nachbarschaften, Schulen, Freizeiteinrichtungen, kirchlichen Gemeinschaften und auch im Sport.“ (LSB NRW)

Ziel ist es, dass du für Grenzverletzungen und Gewalt sensibilisiert wirst, zur Enttabuisierung von sexualisierter und interpersoneller Gewalt beitragen kannst und Handlungssicherheit erlangst. Dazu lernst du Möglichkeiten der Prävention und die ersten Schritte der Intervention kennen.

Gewalt ist „der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder psychischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt.“ (WHO)

Dabei wird unterschieden zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Taten. Jede Person hat aufgrund ihrer individuellen Erfahrungen, Sozialisation oder Erziehung eigene Grenzen, die nicht immer von Anderen erkannt werden können. Somit sind höchstwahrscheinlich alle schon mal unbeabsichtigt Verursacher*innen von Grenzverletzungen geworden. Im Gegensatz dazu sind Übergriffe nicht zufällig oder unbeabsichtigt. Sie können aus persönlichen oder fachlichen Defiziten heraus geschehen oder ganz bewusst von Täter*innen eingesetzt werden, um Grenzen auszutesten oder grenzüberschreitende Umgangsweisen zu normalisieren. Darüber hinaus gibt es strafrechtlich relevante Gewaltformen, wie sie u. a. im Strafgesetzbuch benannt sind. Es wird zwischen physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt unterschieden (vgl. Tabelle 1).

Sexualisierte Gewalt

Im engeren Sinne ist sexualisierte Gewalt wie folgt als Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung definiert:

„Die Nötigung zu sexuellen Handlungen mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist.“ (StGB § 174– § 184l.) Im weiteren Sinne zählen auch Grenzverletzungen und Übergriffe dazu, die zum Teil strafrechtlich nicht verfolgt werden können („Grauzone“). Dazu können auch „Vorbereitungshandlungen“ von Täter*innen zählen.

Beispiele für sexualisierte Gewalt im weiteren Sinne:

  • Ohne Körperkontakt (hands off)
    • sexistische Witze, sexuell anzügliche Bemerkungen, Mitteilungen/Bildnachrichten mit sexuellem Inhalt, Anwesenheit der Übungsleiter*in beim Umziehen/Duschen, Ausfragen des Kindes über seine Sexualgewohnheiten.
  • Mit Körperkontakt (hands on)
    • unangemessene Berührungen/Massagen; betroffene Person auffordern, mit ihr allein zu sein; häufige, anlasslose Umarmungen der Spieler*innen; Streicheln; „Hilfestellung“ bei der Körperhygiene oder beim Umziehen.

Besonderheiten des Sports

Es gibt einige Besonderheiten des Sports, die Risiken und Gelegenheiten zur Gewaltausübung oder Machtmissbrauch mit sich bringen können. Ein wesentlicher Aspekt sind keine oder nur wenige Zugangsbeschränkungen im Sport. Wer Mitglied in einem Verein werden oder sich dort ehrenamtlich engagieren möchte, ist herzlich willkommen. Dies spricht einerseits für den Sport, andererseits birgt dieser offene Zugang Risiken. Ein weiterer Aspekt ist der regelmäßige Kontakt, beispielsweise zu Trainer*innen oder Betreuer*innen, sodass es zu engen Bindungen und Vertrauensbeziehungen kommen kann, die von Täter*innen ausgenutzt werden können. Machtungleichgewichte durch z. B. das Alter, Kompetenzen, Länge der Zugehörigkeit oder Hierarchien bringen weitere Gefahren mit sich, die zum Machtmissbrauch genutzt werden können. Des Weiteren kann die Leistungsorientierung im Sport Abhängigkeiten von Funktionär*innen, Trainer*innen etc. durch finanzielle Förderung, Sponsoring oder Kadernominierungen mit sich bringen. Die Hyperinklusion beinhaltet ebenfalls eine Abhängigkeit und damit ein Risiko. Diese beschreibt die Ausrichtung einer Person auf einen Lebensbereich und prägt die gesamte Lebensführung, wie es z. B. im Leistungssport vorkommen kann. Letztlich ist natürlich auch die Körperzentriertheit, die dem Sport u. a. mit Körperkontakt, Hilfestellungen, physiotherapeutischen Behandlungen oder Dusch- und Umkleidesituationen inne liegt, als Risikofaktor zu benennen. Risikobehaftete Situationen, wie gemeinsame Fahrten, Übernachtungen bei Freizeiten, Wettkämpfen oder Trainingslagern, können hier ebenfalls risikobehaftet sein.

Risiken im Kontext Sport entstehen auch im digitalen Raum. 94 % der 12- bis 19-Jährigen besitzen ein eigenes Smartphone. Durch den Zugang zu digitalen Räumen entstehen folgende Gefahren: Ein mögliches Gefühl der Ausgeschlossenheit bei Nichtnutzung eines Smartphones oder von sozialen Netzwerken/Plattformen, Missverständnisse in der digitalen Kommunikation, die bis zu Streit führen können, unerwünschte Text- und Bildnachrichten, auch mit sexualisierten Inhalten, Aufnahmen mit dem Smartphone (im Umkleidebereich) sowie der Einfluss von Vorbildern wie Spitzensportler*innen, die soziale Medien nutzen und oftmals in knapper Kleidung posieren. Dies kann zu dem Gefühl führen, dass die eigene Figur nicht der vermeintlichen Norm entspricht. In vielen Vereinen und Verbänden erfolgt die Kommunikation über diverse Messengerdienste, um sich zu vernetzen, Trainings abzusprechen o. Ä. Hier besteht die Gefahr, dass persönliche Grenzen von Einzelnen überschritten bzw. bewusst zur privaten Kontaktaufnahme genutzt werden, was noch erheblicher ist, da es kaum eine Möglichkeit gibt, sich in einen „privaten Ort“ zurückzuziehen.

Betroffene

In Europa sind rund 18 Mio. Kinder und Jugendliche von sexueller Gewalt betroffen. Auf Deutschland übertragen ist von rund einer Million betroffener Kinder und Jugendlicher auszugehen. Insgesamt sind Zweidrittel der Minderjährigen in Deutschland im Schulalter. Damit ist von circa 600.000 betroffenen Schüler*innen auszugehen, die sich auf circa 400.000 Klassen verteilen. Damit sind, rein statistisch, in jeder Schulklasse mindestens 1–2 betroffene Schüler*innen.

Vor diesem Hintergrund solltest du dir als Übungsleiter*in bewusst sein, dass in deiner eigenen Trainingsgruppe, Klasse oder Verein höchstwahrscheinlich Personen sind, die bereits einschlägige Erfahrungen gemacht haben.

Betroffene von sexualisierter Gewalt:

  • 15.520 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch (nach §§ 176, 176a,b,c,d,e StGB);
  • 74 % betroffene Mädchen, 26 % betroffene Jungen;
  • 1.583 Fälle von Missbrauch an Schutzbefohlenen und Jugendlichen;
  • 48.821 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinder- und Jugendpornografie.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen und jugendpornografische Inhalte besaßen, herstellten, erwarben oder insbesondere über soziale Medien weiterverbreiteten, hat sich in Deutschland zwischen 2018 und 2022 mehr als verzwölffacht – von damals 1.373 Tatverdächtigen unter 18 Jahren auf 17.549 Tatverdächtige (davon 5.553 Kinder unter 14 Jahren und 11.996 Jugendliche über 14 Jahre).

Dunkelfeldforschungen zeigen, dass jede*r siebte bis achte Erwachsene in seiner*ihrer Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen machen musste.

Untersuchungen zu sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen (15–65-Jährige) weisen darauf hin, dass diese zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt sind als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt. Die Safe Sport Studie von 2016 (Leistungssport) und die SicherImSport Studie 2022 (Breitensport) sind für den Sport relevant.

„Sexualisierte Gewalt ist im Bereich des organisierten Leistungs- und Wettkampfsports genauso präsent wie in der Allgemeinbevölkerung.“ (Allroggen et al., 2016)

Auswirkungen und Folgen

Sexualisierte und interpersonelle Gewalt hat neben den Auswirkungen auf die betroffene Person, auch Folgen für das Umfeld und den Sportverein. Bei den betroffenen Personen sind die Auswirkungen vielfältig: ungutes Gefühl, Verwirrung und Lähmung, Ambivalenz, Schuldgefühle, Selbstzweifel, Zwang zur Loyalität, Isolation, Ohnmacht und Ausweglosigkeit, Verlust des Selbstwerts, Verhaltensauffälligkeiten, affektive & kognitive (Trauma-)Symptome. Manchmal haben sie lebenslange Folgen.

Auswirkungen auf das Umfeld der betroffenen Person und den Verein

Ein Vorfall wirkt sich ebenfalls auf das Umfeld der betroffenen Person aus. Viele Täter*innen genießen durch ihre bewussten Manipulationen oft Anerkennung und Vertrauen im sozialen Umfeld. Dies führt häufig dazu, dass es zu einer Spaltung im Team oder im Verein kommt: in diejenigen, die den*die Täter*in in Schutz nehmen und sich einen Missbrauch kaum vorstellen können und diejenigen, die harte Sanktionen fordern. Damit einher gehen Emotionen wie Schuldgefühle, Verrat, Wut oder Scham. Ein Verein, der mit einem Vorfall in den eigenen Reihen umgehen muss und sich vorher nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist oft überfordert. Der Vorstand fühlt sich hilflos bis zur kompletten Handlungsunfähigkeit oder aber er verfällt in wilden Aktionismus. Beides geht oft mit weiteren negativen Auswirkungen für Betroffene, Täter*innen oder den Verein einher.

Täter*innen

Es gibt nicht den oder die eine Täter*in. Das heißt, es gibt keine äußeren Erscheinungsmerkmale, die auf eine Täterschaft hinweisen. Täter*innen handeln jedoch nach bestimmten Mustern, um ihre Opfer zu manipulieren und zu isolieren (Täterstrategien). Täter*innen sind in allen sozialen Schichten vertreten und Gewalt kann in jeder Konstellation auftreten, nicht nur zwischen erwachsenen Personen und Kindern/ Jugendlichen. Statistiken zeigen, dass 80–90 % der Täter männlich sind. Etwa 75 % der Täter*innen sind den Betroffenen bekannt und nutzen das Vertrauen und die Nähe aus (vergleiche Abbildung 19). Ein Drittel aller Delikte wird von männlichen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren verübt. Eine*r von zehn Betroffenen wird durch eine erwachsene Frau missbraucht. Sowohl Täter als auch Täterinnen missbrauchen Kinder jeden Geschlechts, jedoch missbrauchen Frauen eher Jungen, während Männer eher Mädchen missbrauchen. Es ist davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt wird, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut oder eher bagatellisiert werden. Entsprechend wurde über missbrauchende Frauen in Deutschland bislang wenig geforscht. Es ist jedoch bereits erwiesen, dass Frauen keineswegs nur zusammen mit einem männlichen Partner oder unter dessen Einfluss missbrauchen, sondern durchaus als Einzeltäterinnen agieren.

Täter*innen Strategie

Täter*innen nehmen ihre Taten bewusst vor, bereiten sie in der Regel gut vor und planen sie über einen längeren Zeitraum. Häufig kommt es zu Wiederholungstaten mit mehreren Betroffenen. Denn die Täter*innen suchen sich oftmals bewusst bestimmte Settings aus, in denen sie viele potenzielle Opfer finden können, beispielsweise weil die Zugangsbarrieren niedrig sind – so wie im Sport. In diesen Settings wählen Täter*innen ihre Opfer gezielt aus. Sie bauen Vertrauen auf, schenken den Opfern besondere Aufmerksamkeit und testen über wiederholte Grenzverletzungen aus, ob ein Opfer sich wehrt. Sie verschieben persönliche Grenzen oder „normalisieren“ ihre Taten. Gleichzeitig manipulieren sie ihr Umfeld und verüben schließlich den Missbrauch. Um die Taten zu verdecken, sprechen sie ihren Opfern Redeverbote und Schuldzuweisungen aus. Werden Täter*innen entdeckt, finden sie vielerlei Begründungen für ihr Verhalten, die durch die vorherigen Manipulationen plausibel erscheinen können.

Prävention und Intervention

Das Landeskinderschutzgesetz des Landes NRW (2022) gilt auch für die sportliche und freizeitorientierte Jugendarbeit in deinem Verein. Zur Umsetzung muss dein Verein ein Schutzkonzept haben. Schutzkonzepte sind Maßnahmen, die alle Ebenen des Vereins einbezieht und auf den Schutz aller Beteiligten abzielt. Dazu gehört zum Beispiel, strukturelle & personelle Risiken zu minimieren, Handlungssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen, ein Klima der Offenheit und Transparenz aufzubauen, Wissen zu generieren und die Rechte, Wertehaltungen, Menschenbilder, Bedürfnisse und Verhaltensweisen zwischen allen Akteur*innen abzugleichen. In Vereinen mit einer klar kommunizierten „Kultur des Hinsehens und der Beteiligung“ ist das Risiko für alle Formen sexualisierter Gewalt signifikant geringer.

Informiere dich über das Schutzkonzept in deinem Verein bei deinem Vorstand. Wenn dein Verein noch kein Schutzkonzept hat, informiere deinen Verein darüber, damit er sich mit der Prävention sexualisierter Gewalt auseinandersetzt und ihr gemeinsam eine Kultur des Hinsehens entwickeln könnt.

Was ist, wenn ich als Übungsleiter*in angesprochen werde?

Ruhe bewahren 

  • Zuhören und Glauben schenken.
  • Nicht überstürzt handeln und nichts versprechen, was du anschließend nicht halten kannst.
  • Verdachtsmomente dokumentieren und sammeln.
  • Eigene Gefühle klären, Grenzen erkennen und akzeptieren.
  • Keine Entscheidung über den Kopf der betroffenen Person hinweg fällen, Folgemaßnahmen altersgemäß absprechen.
  • Rücksprache mit Ansprechperson(en) im Verein halten.
  • Keine Informationen an beschuldigte Person(en).
  • Professionelle Hilfe bei Fachberatungsstellen suchen.
  • Vereinsintern gemäß vereinsspezifischem Schutzkonzept vorgehen

Die nächsten Schritte

Deine Aufgabe und Verantwortung als Übungsleiter*in ist die Weitergabe von Informationen an die Ansprechperson in deinem Verein. Damit wirst du in der Verantwortung entlastet und musst „nur“ deine Beobachtungen weitergeben. Die Ansprechperson setzt sich dann zusammen mit dem Vorstand und externen Fachberatungsstellen weiter mit dem Fall auseinander.

Neben Fachberatungsstellen bietet auch das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (Telefon: 0800 22 55 530) eine bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten. Hier kannst du dich also auch melden, wenn du dich unsicher fühlst, oder Fragen zum Thema stellen möchtest.

Weitere Informationen und Materialien findest du hier: 

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